Ein Kaffee mit Professor Urs Wagenseil Hochschule Luzern – Wirtschaft
Ich treffe Urs Wagenseil in seinem Büro an der Rösslimatte in Luzern.
Freundlich begrüsst er mich und kurze Zeit später steht ein herrlich duftender Kaffee vor uns auf dem kleinen Besprechungstisch.
Was mir sofort auffällt, sind die vielen Souvenirs aus fremden Ländern.
Zahlreiche Fachbücher stapeln sich in den Regalen und geben dem Büro das typische Flair eines Hochschulprofessors.
Entspannt lehnt sich Urs Wagenseil zurück und nach dem ersten Schluck Kaffee hört er sich konzentriert meine erste Frage an.
Sommerzeit ist Ferienzeit. Was für ein Ferientyp bist du?
Ich bin jemand, der gerne Neues ausprobiert. Immer ans gleiche Ferienziel zu reisen, wäre nichts für mich. Der Globus bietet viel zu viel und ich möchte auch aus beruflichen Gründen die Welt und die Gesellschaft verstehen. So gesehen habe ich immer zwei Brillen an, nämlich diejenige als Privatperson und diejenige als Touristiker. Und so dokumentiere ich übrigens auch meine Ferien: natürlich mache auch ich die klassischen Ferienbilder aber eben auch eher dokumentarische Motive, eher atypische Ferienbilder. Somit reise ich, um zu lernen aber auch meinen Horizont zu erweitern.
Wenn du eine Reise planst, auf was achtest du am meisten?
Es kommt ganz darauf an, was das Motiv der Reise ist: handelt es sich um eine Ferien- oder eine Geschäftsreise? Grundsätzlich bereite ich mich derart vor, dass ich bei jeder Reise etwas erfahren und erkennen kann. Bei Ferienreisen brauche ich stets einen guten Mix aus Aktivität und Erholung. Je nach Reisedauer wähle ich dann auch das geeignete Transportmittel aus.
„Mir ist ganz wichtig, dass ich Reisen im nationalen und angrenzend internationalen Umfeld immer mit dem Zug mache.“ (Urs Wagenseil)
Wie stark spielen dabei Umweltschutz und Nachhaltigkeit eine Rolle?
Umweltschutz und Nachhaltigkeit spielen bei mir immer eine Rolle, aber ich kann sie leider nicht immer konsequent durchziehen. Je nach Destination und Distanz spielt vor allem bei Geschäftsreisen der Zeitfaktor eine Rolle und ohne Flugzeug kommt man halt bei Distanzen grösser 1’000 km einfach nicht genügend rasch ans Ziel. Mir ist ganz wichtig, dass ich Reisen im nationalen und angrenzend internationalen Umfeld immer mit dem Zug mache. Die einzige Ausnahme bilden für mich die Wintersportferien, denn mit Ski, Langlaufski, Ausrüstungen und Gepäck wird es einfach zu umständlich. Hier weiche ich dann auf das Auto aus. Bei Geschäftsreisen ist der Zeitdruck meistens zu hoch und meine Destinationen bewegen sich auch im weiteren internationalen Umfeld. Da muss ich mit dem Flugzeug reisen.
Du bildest an der Hochschule Luzern zukünftige Tourismusfachleute aus und bist zusätzlich in verschiedenen internationalen Experten-Gremien engagiert. Was mein besonderes Augenmerk erhascht hat, sind deine Expertisen im Bereich „Nachhaltigkeitstourismus“. Ein Trend oder tatsächlich nachhaltig?
Gute Frage und ich denke, dass man in einigen Aspekten von einem Trend sprechen kann; obwohl Teilelemente der Nachhaltigkeit bis in die 1970er Jahre zurückreichen. Krippendorf hat bereits darüber geschrieben, als es um die ersten Formen des Massentourismus ging und die Zerstörung der Natur und der Ökologie zunehmend ein gesellschaftsrelevantes Thema wurden. Die Terminologie hat sich zwar über die Jahre immer wieder geändert; im heutigen Sinne subsummieren wir unter dem Begriff der Nachhaltigkeit alle positiven und negativen Konsequenzen des Reisens auf der ökologischen, ökonomischen und sozialen Ebene.
Um auf deine Ausgangsfrage des Trendbegriffs zurückzukommen: spricht man nach über 40 Jahren noch von einem Trend? Ich glaube eher nicht. Bei der Terminologie „Nachhaltiger Tourismus“ hingegen schon, da er in dieser Form erst seit gut 10 Jahren Fuss gefasst hat. Was hingegen ganz klar einem Trend entspricht, ist die heutige Begriffsbedeutung, nämlich dass sowohl die Anbieter wie auch die Nachfrager ihr Verhalten kritischer hinterfragen. Diesbezüglich befinden wir uns jedoch noch in der Anfangsphase. Denn wenn wir eruieren, wie hoch die Passagierzahlen an den grossen Flughäfen sind, dann handelt es sich hier um Rekordzahlen. Also weit weg von nachhaltigem Reiseverhalten.
Was mir auch wichtig erscheint: wir dürfen nicht vergessen, dass die Gruppe der „Vielgereisten“ in einem globalen Kontext noch recht „klein“ ist. Viele Menschen können erst jetzt grosse Auslandsreisen unternehmen und es ist irgendwie einleuchtend, dass sich dieses Segment eher nicht um nachhaltiges Reisen kümmert, sondern Reisen und Auslandsferien einfach uneingeschränkt geniessen möchte.
Abb. 1 aus dem Jahr 2010 prognostizierte 1.4 Milliarden «internationale Ankünfte» für 2021. Dabei sind die nationalen Reisen noch nicht mitgerechnet. Bereits im Jahr 2018 (Abb. 2) wurde diese Zahl erreicht und die tatsächliche Entwicklung ist somit um einiges steiler zu interpretieren (Quelle Abb. 1: UNWTO Tourism Highlights 2017, Ausgabe 2017 / Quelle Abb. 2: UNWTO International Tourism Results 2018,Publ. January 2019).
Dann frage ich jetzt mal etwas provokant nach: Erkaufen wir uns Nachhaltigkeit, wenn du sagst, dass die Passagierzahlen an den grossen Flughäfen steigen?
Hmmm… im Flugwesen ist natürlich die CO2-Debatte ein heisses Eisen. Die Medien berichten ja auch immer wieder darüber – Fliegen wird in diesem Sinne fast verteufelt. Der CO2-Ausstoss ist natürlich im Sinne des Klimawandels und der Klimatonne verheerend. Somit müsste man fast sagen, dass man als Individualtourist – ich klammere mal Reisen im geschäftlichen Kontext ein wenig aus – keine Flugreise antreten dürfte, da dies nie klimafreundlich sein wird. Wir haben jedoch durch den konsequenten technologischen Fortschritt die Möglichkeit quasi non-stop um die Welt zu fliegen; und diese Möglichkeiten nutzen wir fleissig. Dies zum Beispiel zu kontingentieren – also zu berechnen, wer wie häufig pro Jahr fliegen „darf“ – ist eine heikle ja gar unmögliche Diskussion. Fakt ist, dass wir Schweizer Weltmeister bei Flugreisen sind. Würden alle Menschen derart um die Welt jetten wie wir, würde das Klima kollabieren. Ein ganz grosser Zielkonflikt; ein Jeder und eine Jede möge mal überlegen und zählen, wie viele Flug- und andere Reisen wir bisher in unserem Leben schon gemacht haben? Tagesausflüge in der Schweiz mal weggelassen. Fazit, wir Schweizer sind Weltmeister, wenn es ums Reisen geht. Eine Studie führt auf, dass 53% der unter 25-Jährigen bereits in New York waren; frage ich hingegen in meinen Vorlesungen meine Studierenden, wer schon in Le Locle oder La Chaux-de-Fonds war, herrscht Schweigen.
„Fakt ist, dass wir Schweizer Weltmeister bei Flugreisen sind.“ (Urs Wagenseil)
Darf ich hier bitte noch eine spontane Frage einschieben? In den Medien der letzten Monate, v.a. auch seit Greta Thunbergs Auftritt am WEF, wird das Reisen scharf kritisiert und als unvereinbar mit nachhaltiger Entwicklung angeklagt. Was meinst Du dazu?
Das ist eine viel zu einseitige Betrachtung und Anschuldigung. Aber verständlich, weil einfach und zudem lässt sich so von anderen Entwicklungen ablenken, welche nicht besser sind. Das trifft vor allem auf Flugreisen und Kreuzfahrten zu. Wenn wir uns aber in allen Lebensbereichen, also nicht nur in Bezug auf das Reisen, sondern auch in der Arbeitswelt, Wirtschaft, Politik etc. nachhaltiger verhalten und bewegen würden, würde man die Welt massiv weniger belasten.
Das isolierte Anklagen des Tourismus ist nicht fair. Es gibt nicht nur einen Schuldigen und Sündenbock. Schauen wir uns doch mal unser Gesamtleben an: wie häufig nutzen wir das Auto, um von A nach B zu kommen – und zwar alleine? Schauen wir uns doch mal die verstopften Strassen an und die gewaltige Tonnage, die da jeden Tag produziert wird. Interessanterweise wird diese Art der Verschmutzung toleriert. Ist dies, weil Autofahren zu unserem Alltag gehört, Reisen jedoch als Luxus gilt? Also wird letzteres verteufelt. Die Produktion von Fleisch wäre ein nächster Aspekt: Das Einkaufen von importierten Gütern, wie Ananas, Wein, Meeresfrüchte usw. ist ebenso kein vorbildliches Verhalten und ist ebenso mit Klimabeeinträchtigung verbunden. Deshalb vertrete ich den Standpunkt, dass man nicht eine Branche an den Pranger stellen darf. Wir müssen einen holistischen Ansatz wählen, der alle Aspekte beleuchtet und dieser muss industrieübergreifend sein.
Was rätst du den Reiselustigen, wie sie trotz den oben angesprochenen Zielkonflikten einigermassen umwelt- & nachhaltigkeits-konform verreisen können?
Mein Tipp wäre, dass wir uns in einem ersten Schritt einmal bewusst werden, was für ein Reiseverhalten wir an den Tag legen und dieses „inventarisieren“. Und ich meine damit nicht nur die längeren Ferienreisen, sondern auch die Wochenendreisen, egal ob im In- oder Ausland. Also eine Art Reiseabdruck darstellen. Dann müssten wir uns überlegen, ob es die Quantität an Reisen wirklich braucht oder ob wir nicht mehr auf die Qualität Wert legen wollen und diese im Sinne der Nachhaltigkeit dann auch vertieft und längerfristig planen. Wichtig ist auch die Überlegung mit welchem Transportmittel ich an meine Feriendestination reise, was für eine Form der Unterkunft ich wähle, zu überlegen, wohin mein Geld fliesst.
Lass mich ein typisches Beispiel kurz einschieben: übernachtest du in einer internationalen Hotelkette, fliesst ein gewisser Anteil deines Geldes in das Ursprungsland dieser Kette zurück, respektive weg, anders als wenn du ein lokales Familienhotel wählst, wo das Geld vor Ort bleibt. Gleiches gilt auch bei Restaurantketten, kommerzialisierten Air B&Bs etc. – und welche Aktivitäten ich an der Zieldestination ausübe. Der Footprint kann bei jeder Reise reduziert werden; aber eben: es gilt unser ganzes Lebensverhalten entsprechend zu hinterfragen.
Was mich sehr nachdenklich gestimmt hat, ist die folgende These, die Matthias Horx vom deutschen Zukunftsinstitut in seiner Studie „Tourismus 2020“ aufgestellt hat: „Mood-Management: Wichtig sind nicht länger die Urlaubsziele, sondern die Befriedigung des Wunsches nach Service, Convenience sowie ganzheitlichen Wohlfühlkonzepten.“ Das klingt für mich nach einem rundum Wohlfühlpaket auf dem goldenen Serviertablett. Wollen wir uns in unseren Ferien um nichts mehr kümmern? Wo bleibt da der Entdeckergeist, die Neugier, die Eigeninitiative?
Es gibt unzählige Gründe zu Reisen. Jeder Mensch ist auch ein Chamäleon. Mal suchen wir Erholung in einem Wellnesshotel, mal verspüren wir Kulturhunger in einer fremden Stadt, mal Aktivferien als Velofahrer oder Surfer, mal als Entdecker mit dem Rucksack quer durch ein Land etc. Ich glaube, es ist nicht falsch was Horx sagt und auch nicht widersprüchlich; ich denke einfach, dass es sich hier um einen ganz bestimmten Typ Mensch handelt, der auf Bequemlichkeit, Verwöhnen, Entspannung etc. setzt.
Andere planen zum Beispiel eine Europarundreise in sieben Tagen und sind somit gänzlich anders unterwegs als der eben beschriebene Reisetyp. Hier gibt es halt verschiedene Reisetypen und man kann nicht sagen das eine ist besser als das andere; es sind unsere Motive und Bedürfnisse, die unser Reiseverhalten bestimmen. Was dieses hingegen wieder für die Destination und unseren Nachhaltigkeitsabdruck bedeutet, ist wieder eine andere Frage, die wir oben bereits angesprochen haben. So vielfältig wir Menschen sind, so vielfältig sind unsere Motive. In jeder gewählten Form bin ich aber der Überzeugung, dass sich der einzelne Mensch auf seinen Reisen nachhaltiger bewegen kann. Aber eben, das braucht viel Kompetenz und viel Wissen was nachhaltiges Reisen überhaupt heisst und wie weit ich das durchziehen kann.
„Jeder Mensch ist auch ein Chamäleon. Mal suchen wir Erholung in einem Wellnesshotel, mal verspüren wir Kulturhunger in einer fremden Stadt, mal Aktivferien als Velofahrer oder Surfer, mal als Entdecker mit dem Rucksack quer durch ein Land.“ (Urs Wagenseil)
Wenn ich jetzt hier nachfassen darf: was sind zusammengefasst deine Stichworte für nachhaltiges Reisen?
Nachhaltigkeit beruht ja immer auf den drei Säulen der Ökonomie, Ökologie und dem sozialen Aspekt. Da Reisen im intensiveren Wettbewerb primär immer günstiger geworden ist, ist die Nachhaltigkeit bzw. Ökonomie primär ein Anbieterthema. Es muss finanziell überlebt werden, sonst gehen auch Arbeitsplätze verloren. Das günstigere Reisen führt aber zu einer grösseren Nachfrage. Also gilt es verstärkter auch die ökologischen und sozialen Aspekte zu beleuchten. Zusammengefasst geht es hier darum den Schaden an der Umwelt zu reduzieren und die kulturellen und gesellschaftlichen Werte und Strukturen am Zielort zu belassen und nicht zu verändern oder gar zu zerstören.
Jede Reise sollte nicht nur der Erfüllung der eigenen Motive und Bedürfnisse dienen, sondern dem bereisten Ziel auch einen Nutzen bringen. Zu glauben, man bringe ja Geld, greift zu kurz und ist eben noch nicht nachhaltig. Wenn wir uns aber in Zukunft mehr ökologisch und sozialverträglicher bewegen wollen, wäre das schon mal ein ganz grosser Schritt in die richtige Richtung. Ökologisch bedeutet Nachhaltigkeit alle Aspekte rund um die CO2 Emissionen, deren Kompensationen, Wahl des Mietautos vor Ort – also ich meine hier Grösse, Verbrauch etc. Beim sozialen Aspekt wird es schwieriger; denn hier geht es um Wertschätzung gegenüber der bereisten Bevölkerung, Anerkennen und Respektieren derer Sitten und sozialen Verhaltensregeln; Zeit, die ich mir vor Ort nehme, um z.B. die Stadt wirklich zu erkunden und nicht hektisch ein Foto nach dem anderen zu schiessen und dann weiter zu hetzen. Und es geht auch um die Frage, was bringe ich Gutes in die Destination und was mache ich kaputt?
Dem Massentourismus bzw. dem Convenience-Tourismus steht der sanfte Tourismus gegenüber. Er hat sich zum Ziel gesetzt, dass das Reisen möglichst im Einklang mit der Ökologie, den Einheimischen, der bestehenden Infrastruktur am Destinationsziel sowie einem schonenden, nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen erfolgen soll. Eine grosse Herausforderung für das Tourismus-Marketing, oder nicht? Auf der einen Seite möchte man dem Gast die unverfälschte Eigenheit der Destination zeigen und mit allen Sinnen erlebbar machen; auf der anderen Seite steht der anspruchsvolle, erlebnis- und Lifestyle-orientierte wenn nicht gar verwöhnte Tourist.
Nun es gibt zwei Hauptströme: die einen wollen die „Must-Sees“ sehen, also zum Beispiel den Eifelturm, die Golden Gate Bridge, die Kappelbrücke, das Colosseum, Machu Picchu etc.; andere die verborgenen Geheimnisse der Welt. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Ja, Massentourismus kann ein Problem im Sinne des „Overtourismus“ darstellen, das zu lösen schwierig ist. Massentourismus an den einen Orten verhindert immerhin die Überflutung mit Reisenden an anderen Orten. Wichtig erscheint mir, dass wir uns im Sinne des sanften Tourismus im Vorfeld mit den Gepflogenheiten der Destination auseinandersetzen. Auch, wie bewege ich mich in der Natur? Wo kann ich potenziell etwas zerstören – zum Beispiel sollte ich beim Biken immer auf den Trails bleiben und nicht quer durch die Natur fahren und diese beschädigen. Wie kleide ich mich im Gastland – welche Regeln gelten usw.
Das setzt natürlich wieder eine vertiefte Vorbereitung aus, die allein bei mir als Individuum beginnt. Und hier komme ich wieder auf oben erwähntes Reiseinventar zurück, das unterstützend im Sinne der Qualität vor Quantität dienen soll. Vorbereitung ist das A und O, insbesondere, wenn ich mich ausserhalb der touristischen Städte und deren Hot-Spots bewegen möchte.
„Wichtig erscheint mir, dass wir uns im Sinne des sanften Tourismus im Vorfeld mit den Gepflogenheiten der Destination auseinandersetzen.“ (Urs Wagenseil)
Apropos Lifestyle – da fällt mir noch der Selfie-Hype und das ständige Posten der neusten Ferieneindrücke ein. Wie stark kommen Tourismusdestinationen unter Druck, wenn ein extravagantes, wunderschönes Bild via Social Media um die Welt geht und plötzlich ein „Run“ auf den Ort herrscht?
Also zuerst müssen wir festhalten, dass diese Art von Fotos posten die moderne Form des „Word of Mouth“ darstellt. Meine Follower sehen, dass ich an diesem Ort bin. Diese Art der Kommunikation ist viel schneller und breiter als die klassische Multiplikation der Information. Aber wir müssen diesen Aspekt auch relativieren: wie viele Bilder werden heute gemacht, hochgeladen und welchen Impact haben sie tatsächlich? Wohl zig Millionen! Aber nicht jeder, der etwas postet hat einen Impact – er möchte das zwar; aber ich denke so bedeutsam ist der Einzelne dann doch wieder nicht. Es sind dann wohl doch eher die Opinion Leaders oder Celebrities, die das eher zu beeinflussen vermögen.
Aber ja, in der Summe können Fotos schon Begehrlichkeit nach einem Ort auslösen. Und da gibt es zwei Typen von Urlaubszielen: erstens diejenigen welche viele Gäste herzlich willkommen heissen, und das sind die meisten Orte auf dieser Welt! Und zweitens, diejenigen, wo man aufgrund des Massentourismus schon genug Gäste zählt, wie zum Beispiel Barcelona oder Dubrovnik. Diese Destinationen beginnen mit einem De-Marketing und suchen Lösungen, die Zahl der Touristen zu beschränken. Das sind erste Umkehr-Strategien. Verständlich aus Sicht der bereisten Destination, aber im Kontext der zunehmenden Reisezahl natürlich mit Konsequenzen. Wenn Top-Destinationen, und das sind viele, die Touristenzahl beschränken, löst das andernorts mehr Nachfrage aus. Das mag zuerst willkommen sein, aber auch da wird es Grenzen geben. Wie geht es dann weiter?
Du blickst auf eine langjährige Touristikerlaufbahn zurück. Wenn du Resümee ziehen müsstest, was hat sich seit Beginn deiner Berufskarriere bis heute alles verändert? Was empfindest du als positiv und was eher als bedenklich?
Das Angebot ist grundsätzlich grösser geworden; die Welt steht uns offen – es gibt keinen Platz auf dieser Erde, wo wir nicht hinreisen können und das ist schön, denn diese Erreichbarkeit erlaubt es uns viele fremde Länder, Kulturen etc. kennenzulernen und wir fokussieren nicht auf ein paar einzelne Destinationen. Es ist auch finanziell erschwinglich und die Technologie hat sich sehr entwickelt. Das wären für mich die positiven Entwicklungen.
Eher bedenklich ist der Trend zum rücksichtslosen wie auch zum uneingeschränkten Reisen. Damit meine ich, dass quantitative Überlegungen im Vordergrund stehen und nicht die qualitativen. Auch die Entwicklung des Stereotyps, die in den 1980igern begonnen hat, dass die Ferien umso schöner sind, je weiter sie vom Heimatland entfernt sind, ist fix in den Köpfen der Menschen.
Ein simples Beispiel dazu: Dir erzählt jemand, dass er seine Sommer-Badeferien auf den Fiji-Inseln verbracht hat und du warst vielleicht am Comer See. Wer hat wohl in der stereotypischen Wahrnehmung die „schöneren“ Ferien verbracht? Wohl derjenige, der auf den Fiji-Inseln war, oder? Das dies pauschal betrachtet eigentlich Unsinn ist, versteht sich von selbst.
Bedenklich ist hier die Einstellung für mich, dass die Gesellschaft nicht mehr qualitativ denkt, zu wenig hinterfragt und plant. Der Konsument ist sich aus seiner Bequemlichkeit und seinem Egoismus zu wenig bewusst, was er eigentlich macht – und das kann grosse Schäden im Sinne der Nachhaltigkeit erzeugen. Es gibt in unserer heutigen Multi-Optionsgesellschaft einfach zu viele Möglichkeiten, die teilweise in einen Exzess münden können.
„Eher bedenklich ist der Trend zum rücksichtslosen wie auch zum uneingeschränkten Reisen. Damit meine ich, dass quantitative Überlegungen im Vordergrund stehen und nicht die qualitativen.“ (Urs Wagenseil)
Was würdest du Menschen wie mir ans Herz legen, die sich für fremde Länder und Kulturen interessieren, gerne reisen und trotzdem Wert auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz legen?
Eine wirklich solide Planung und intensivere Auseinandersetzung mit den Angeboten. Bewusster reisen! Nicht einfach maximieren. Die einzelne Reise intensiver erleben. Damit meine ich, dass wir immer den Wunsch verspüren unsere Reise mit unzähligen Fotos zu verewigen. Lieber einmal länger und bewusster verweilen und den Ort auf sich wirken lassen. Weniger ist mehr. Sich Zeit nehmen und vor allem Mut zur Lücke. Damit meine ich, nicht eine vollumfängliche „to-do-Liste“ an Sehenswürdigkeiten abarbeiten, sondern sich auf ein paar wenige persönliche Highlights konzentrieren und diese ausgiebigst erkunden.
Das letzte Wort möchte ich gerne dir überlassen: Was möchtest du den Lesern dieses Interviews gerne noch mit auf den Weg geben?
Reisen ist bildend. Nehmt euch Zeit das Fremde kennenzulernen und nicht nur zum Spot-Foto-Shooting. Weniger ist mehr – weniger häufig, aber dafür länger an einem Ort verweilen und
sich die Zeit nehmen, das Neue auf sich wirken zu lassen. Auch nicht dem Irrglauben verfallen, je exotischer desto besser, sondern sich auch eingestehen, dass Ferien im Toggenburg oder am Bodensee sehr wohl brillante Ferien sein können. Sich auch ein wenig selber hinterfragen, ob es nicht auch mit etwas weniger reisen geht und somit im Sinne der Nachhaltigkeit weniger Schaden anrichtet.
Ich danke dir ganz herzlich für das Gespräch und die Zeit, die du mir eingeräumt hast.
Zur Person
Professor Urs Wagenseil
Leiter Competence Center Tourismus, Hochschule Luzern – Wirtschaft
Rösslimatte, Luzern